Die Lust auf das Nichts

Philipp Mainländers Novelle ›Rupertine del Fino‹

 

Unsere Bahnen sind alle dunkel, und Eines wissen wir nur, woran wir aber selten denken, daß jede in einem Grabe endet.
›Rupertine del Fino‹

Künstler und Philosophen sind Vermesser des Abgrunds. Die meisten verharren am Kraterrand, da, wo es angenehm ist. Die wärmende Sonne von oben, eine kühle Brise von unten. Zwischen Himmel und Hölle ist die Welt am erträglichsten. Der Blick hinab ein behaglicher Schauder. Dagegen ist der Abstieg glitschig und gefährlich. Die Mutigen verlieren schnell die Balance und stürzen ins Bodenlose. Auf dem Grund ist es pechschwarz. Das Nichts hat niemals Versprechungen gemacht. Philipp Mainländer hat sich das angesehen - dann ist er kopfüber in den Abgrund gesprungen, denn: "Der Weise aber blickt fest und freudig dem absoluten Nichts in's Auge." (I, 358)
     Das Sprungbrett ins ewige Nichts hat er zurückgelassen: Zwei Bände Philosophie, zwei Bände Literatur. Während das philosophische Werk seine Kopfspringer von Nietzsche bis zu Cioran fand, musste das literarische Werk ohne Nachahmer auskommen. Dabei war Mainländer an erster Stelle Literat. Vor der ›Philosophie der Erlösung‹ hat er bereits das Drama ›Tarik‹ (1857/58), die Gedichtsammlung ›Aus dem Tagebuch eines Dichters‹ (1858-63), das dramatische Gedicht ›Die letzten Hohenstaufen‹ (1864-66) und das Drama ›Die Macht der Motive‹ (1867) verfasst. Parallel zur Niederschrift seines philosophischen Werkes entstehen noch die Autobiografie ›Aus meinem Leben‹ (1874/75), die Dramenfragmente ›Tiberius‹ und ›Buddha‹ (beide 1875) und die Novelle ›Rupertine del Fino‹ (1875). Publiziert wurden 1876 ›Die letzten Hohenstaufen‹ und 1899 ›Rupertine del Fino‹ - Resonanz fanden beide Texte nicht. Dann schloss sich für hundert Jahre der Sargdeckel über seinem Werk.
     Die Exhumierung geschah um die nächste Jahrhundertwende, denn Untergangsszenarien finden an Zeitbrüchen besonderen Zuspruch. Mainländers antiidealistischer Entwurf entstand auf dem Nährboden des restaurativen 19. Jahrhunderts, als ein wackliges Weltgebäude durch Spätromantik und Biedermeier provisorisch gestützt wurde. Die Bewusstseinskrise um 1800, nach dem Scheitern der Französischen Revolution und dem Ende der Aufklärung, nagte jedoch beharrlich an den Grundfesten dieser Luftschlösser. Lange bevor der Erste Weltkrieg der jahrzehntelangen Agonie ein gewaltsames Ende setzte und das bürgerliche Europa den Treuhandexekutoren überließ, hatte Philipp Mainländer dem gefräßigen Wurm schon seine Honneurs gemacht. Statt das Gebälk notdürftig zu verstopfen wie seine Zeitgenossen, hat er den Wurm gemästet, um die Welt von der Welt zu erlösen. Seine ›praktische Philosophie‹ klärt die Menschheit über ihr Unheil auf, um den Zerfall von innen zu beschleunigen. Dass die Apokalypse immer noch stattfindet, widerlegt ihn nicht - es demonstriert die Nachlässigkeit seiner Nachkommen. Denn so fürsorglich wie Mainländer war kein anderer.
     Verpasst er im philosophischen Werk dem Optimismus kompromisslos den tödlichen Stoß, zwingt er im literarischen Werk den Feind Hoffnung ebenso in die Knie. Die Ende des Jahres 1875 in zehn Tagen verfasste Novelle ›Rupertine del Fino‹ verdient dabei besonderes Augenmerk. Der erste Band der ›Philosophie der Erlösung‹ befindet sich in Druck, Mainländer ist ungeduldig, die persönliche Konsequenz daraus zu ziehen, und er schreibt seinen einzigen Prosatext. Der Ansporn sei gewesen, der Schwester zu beweisen, dass er eine Novelle schreiben könne, das Ergebnis ist ein veritabler Versuch, seine Grundmaxime praktisch darzulegen - dass jede menschliche Bahn in "das reine absolute Nichts, in das nihil negativum" (I, 342) mündet.
     Um die naturhafte Titelfigur Rupertine del Fino sind zwei Männerfiguren angeordnet: ihr Bräutigam Otto von Dühsfeld, ein dem Leben zugeneigter Maler und ihr Cousin Wolfgang Karenner, ein zurückgezogen lebender Philosoph. Dühsfeld unternimmt kurz vor der Eheschließung mit Rupertine eine Reise, von der er nicht zurückkehrt. Die Freunde gehen von seinem Ableben aus, indes liegt Dühsfeld nach einem Unfall in den Bergen mehrere Monate im Koma. Um Rupertine nach dem Verlust Ottos einen Halt im Leben zu geben, heiratet Wolfgang sie. Die beiden führen eine besonnene Zweckehe bis zu dem Zeitpunkt, als Dühsfeld nach seiner Genesung zurückkehrt. Rupertine löst in ihrer leidenschaftlichen Veranlagung - nach längerem inneren Kampf - die Ehe mit Karenner und heiratet Dühsfeld. Der Maler und seine Muse ziehen nach Italien, wo sie sich rauschhaft der Liebe hingeben. Die Folgen des Unfalls und die Monate des Wartens auf Rupertine haben Dühsfeld jedoch ausgezehrt - lungenkrank findet er in Venedig den Tod. Rupertine bricht, mittlerweile völlig mittellos, nach Deutschland auf, wo sie bei Wolfgang Zuflucht findet. Körperlich ausgebrannt und geistig umnachtet stirbt sie dort nach wenigen Tagen.
     Natur, Kunst und Philosophie sind in den drei Figuren exemplarisch angelegt. Rupertine ist zugleich Prüfstein und Spielball für Otto und Wolfgang. Ihr werden weder Eigeninitiative noch Entscheidungskraft zugestanden, sie handelt nicht, sondern wird behandelt. "Sie war ungestüm in ihrem Schmerz und zu leiden unfähig" (IV, 231), lautet das Motto von Tacitus aus den ›Annalen‹, das Rupertines naturhaftes, unreflektiertes Wesen umschreibt. Ihre leidenschaftliche Veranlagung ist auch der Katalysator der Geschichte, denn Otto unternimmt die Reise - auf der es zu dem Unfall kommt -, um über die geplante Eheschließung nachzudenken, weil er sich vor Rupertines Launenhaftigkeit fürchtet. "Ihre Leidenschaft ist verzehrend, tyrannisch, dämonisch wild. Hiergegen lehnt sich der Mann in mir mit seiner ganzen Kraft auf. Ich lasse mich nicht vollständig binden." (IV, 233) Das Opfer, das er zu bringen bereit gewesen wäre, bringt dann zunächst Wolfgang. Dieser versucht, Rupertine seine philosophischen Maximen nahezubringen, doch ist er nicht mächtig genug, sie auf seine eigene pessimistische Grundhaltung einzuschwören. Er verkündet ihr die Lehren Buddhas mit so "hinreißender Beredtsamkeit" (IV, 266), dass sie keine Anteilnahme für Askese und Verzicht dieser Lehre entwickelt, sondern sich zu dem Redner und Philosophen nur noch mehr hingezogen fühlt. "Wohl gelang es ihm, ihre Vernunft zu zwingen, die indische Weltentsagung zu billigen, aber zugleich hatte er wieder ihr Herz, und diesmal mehr als je, entzündet. Mit Verachtung warf diese die ihm widerliche Lehre von sich und klammerte sich an den Lehrer." (IV, 266f.) Für die impulsive Rupertine ist die leidenschaftslose Ehe mit Wolfgang schon vor Ottos Wiederkehr eine schwere Belastung. Daher erliegt sie bald Ottos Überredungskünsten, die Ehe mit Wolfgang zu lösen, der damit wieder frei und unabhängig wäre. "Wer ein solches Opfer bringen kann, wie das seinige, der kann auch die Folgen alle tragen, der hat sich vollständig in geistiger Gewalt … Jeder Tag, den du länger bei ihm verbringst, ist ein Verbrechen, jede freie Minute, die du ihm schenkst, ist dagegen ein göttlicher Dank." (IV, 274) In Venedig feiern Otto und Rupertine das Fest des Lebens, und so "vergingen den beiden Erdeentrückten die Tage wie Stunden. Die Flitterwochen umfaßten Monate, und noch immer lagen die Strahlen des Glücks warm und hell auf Rupertines Bahn." (IV, 287) Diese Bahn verdunkelt sich bald durch den Ausbruch von Ottos Krankheit, und nach seinem Tod findet Rupertine ein opheliahaftes Ende - ihre Leidenschaft hat sie verzehrt und in den Wahn getrieben.
     Die beiden Männerfiguren vertreten die zwei Grundhaltungen, die unweigerlich auf das Nichts, auf die Erlösung zuführen: Wolfgang die Verneinung, Otto die Bejahung des Willens zum Leben. "Jener erreicht also, durch die Bejahung des Willens zum Leben, auf einem dunklen und schwülen Wege, wo das Gedränge entsetzlich ist, Alles stößt und gestoßen wird, dasselbe Ziel, das dieser, durch die Verneinung des Willens, auf einem hellen, nur am Anfang dornigen und steilen, dann ebenen und herrlichen Pfade, wo kein Gedränge, kein Geschrei, kein Gewimmer ist, erlangt." (I, 347) Die Erzählung, die Mainländer zwischen Abschluss des ersten Bandes der ›Philosophie der Erlösung‹ und dem Beginn des zweiten Bandes abfasst, setzt in diesem Punkte einen anderen Akzent in Bezug auf die Frage, wie das Leben am schnellsten vollbracht werden soll. Sah Mainländer noch im ersten Band in der Verneinung des Willens zum Leben "eine schnellere Bewegung" (I, 347) als in der "lange[n] Bahn" der Bejahung, "deren Ende nicht sichtbar ist" (I, 346), vertritt er im zweiten Band die These, dass es darauf ankommt, "daß der Unwerth des Lebens erkannt werde und das ist nur möglich, wann alle Genüsse gekostet werden." (II, 504) Am Ausgang ändert das nichts, da "die Verneinung des Willens zum Leben nicht im Gegensatz zur Bejahung steht." (I, 346) Denn Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben führen jeweils unweigerlich aufs Ende zu: "Aber auf dem Grunde sieht der immanente Philosoph im ganzen Weltall nur die tiefste Sehnsucht nach absoluter Vernichtung, und es ist ihm, als höre er deutlich den Ruf, der alle Himmelssphären durchdringt: Erlösung! Erlösung! Tod unserem Leben! und die trostreiche Antwort darauf: ihr werdet Alle die Vernichtung finden und erlöst werden." (I, 335)
     Mainländer schildert in ›Rupertine del Fino‹ mit Anteilnahme diese Versuchsanordnung für Weltuntergang und haucht den Figuren zuvor noch Leben ein - vor allem dem leidenschaftlichen Liebespaar Rupertine und Otto, die aber an eben dieser Überdosis Leben zugrunde gehen: "Je heftiger das Leben gewollt wird, desto früher wird die Kraft abgetödtet und das Nichtsein errungen." (II, 212) So lässt Mainländer die beiden alle Freuden des Lebens auskosten, wie in den Beschreibungen der venezianischen Flitterwochen deutlich wird. Die beiden zieht es in den Süden, wo Eros und Kunst zusammenfinden. Gegenüber dem kleinen Städtchen am Rande des Odenwaldes, in dem die drei Figuren zunächst wohnen, schafft er mit Italien eine sinnliche Gegenwelt. "Dort habe die Bäuerin mehr Grazie als deutsche Prinzessinnen, das Auge stumpfe sich hier ab, dort reagiere es unaufhörlich auf eine ununterbrochene Kette idealer Gestalten, bestrickender Anmuth, harmonischer Bewegungen, entzückender Farben. Hier: ein ödes Grab, Moderluft, Gespenster." (IV, 238) Das Grab ist Otto jedoch auch in Italien bestellt, denn seine Verherrlichung des arkadischen Lebens als absolute Bejahung des Willens zum Leben führt noch schneller auf sein Ende zu. Damit nimmt Mainländer, der selbst einige Jahre in Neapel lebte, in der Pilgerschar deutscher Künstler nach Italien einen ausgefallenen Platz ein: Der Süden beschleunige mit seiner höheren Lebensfreude den Untergang, denn erst nach dem Ausschöpfen aller irdischen Genüsse sei der Mensch in der Lage, seine Aussichtslosigkeit zu erkennen. "Tanzt, hüpft, freit und laßt euch freien! Die Ermattung und der Katzenjammer werden sich schon einstellen; und dann wird auch für euch das Ende kommen." (I, 348) Während dieser Weg zur Erlösung von Mainländer im ersten Band der ›Philosophie der Erlösung‹ als beschwerlicher und langwieriger beschrieben wird, ist er in ›Rupertine del Fino‹ und in dem zweiten Band der ›Philosophie der Erlösung‹ kürzer und verlockender. Otto von Dühsfeld erreicht als erster das Nichts, und selbst auf dem Totenbett ist er noch von der Lust am Leben beseelt. Ein dionysischer Held des Untergangs.
     Sein Antipode Wolfgang Karenner ist ein "practischer Philosoph" (IV, 266), dessen Weltanschauung "im Wesentlichen ein pessimistischer Eklektizismus" (IV, 266) sei. Hinter dem besonnenen, einem quietistischen Ideal verpflichteten Wissenschaftler, Philosophen und Privatgelehrten verbirgt sich zu einem Teil auch der Autor Mainländer, mehr noch scheint er jedoch eine Personifikation der Schopenhauerschen Willensphilosophie zu sein - der durch ethische Grundsätze geleitete und humanistischen Gedanken verpflichtete Weise, der den beschwerlichen Erdenweg sorgsam abschreitet und sich in Verzicht und Askese eingerichtet hat. Schopenhauers Verneinung des Willens zum Leben trifft hier auf Mainländers Erlösungsphilosophie, doch wenn auch der Wille zum Tode Karenners Lebensgesetz ist, hat man die Befürchtung, dass er mit diesem leidenschaftslosen Lebensstil uralt wird. Mainländer favorisiert zwar die Lebensform des Philosophen Karenner, doch sein Herz schlägt für den Künstler Dühsfeld. Während Otto und auch Rupertine im Laufe der Erzählung immer schillernder werden, wird Wolfgang immer blasser. Es scheint, dass Mainländer sich in ›Rupertine del Fino‹ von dem maßvollen Leben eines Philosophen abwendet und sich dem maßlosen Leben eines Künstlers zuwendet. Seine als ›practische Philosophie‹ apostrophierte Novelle sollte als Anleitung zur Lebensführung gelesen werden, in der der Künstler den Philosophen niederzwingt - Rausch und Ekstase werden Ruhe und Kontemplation vorgezogen. Mainländer projiziert in die beiden Figuren damit zwei Bewältigungsversuche der menschlichen Existenz, die auch seine eigenen waren: Künstler und Philosoph.
     Mainländer selbst ist mehr auf der Seite der Kunst geblieben als ins Lager der Philosophie gewechselt. Seine rauschhafte Erweckungslektüre von Schopenhauers ›Welt als Wille und Vorstellung‹, seine energische Niederschrift der ›Philosophie der Erlösung‹ und sein finaler Schaffensrausch vor seinem Freitod deuten mehr auf eine impulsive künstlerische als auf eine kontemplative philosophische Kraftquelle hin. Die unsystematische Verspieltheit der ›Philosophie der Erlösung‹ hat ihn in der Zunft der Philosophen auch nie recht angelangen lassen, schon Friedrich Nietzsche als erster bezeugter Leser stört sich an dem "Dilettanten" Mainländer.
     Einen anderen Dilettanten sah Nietzsche in Richard Wagner. Auf die geistige Nähe zwischen Mainländer und Wagner weist Nietzsche in einem anderen Punkt hin -Mainländer sei "ein Apostel der unbedingten Keuschheit, gleich Richard Wagner" -, doch bezeugen die zum Ausdruck gebrachte Todesverfallenheit und Erlösungssehnsucht in beider Werk weitere Parallelen. Mainländers Kenntnis von Wagners Musiktheater ist - ebenso wie seine Kenntnis von Nietzsches Schriften - nicht überliefert, aber die philosophischen und künstlerischen Entwürfe von Wagner, Nietzsche und Mainländer ragen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine an Schopenhauers Pessimismus geschulte Grundhaltung heraus, die zumindest in Deutschland nicht ihresgleichen findet. Nietzsches Einbindung von Mainländer in den europäischen Pessimismus - er zählt ihn neben Schopenhauer, Leopardi, Baudelaire, Goncourt und Dostojewski zu den "modernen Pessimisten als décadents" - basierte allein auf der ›Philosophie der Erlösung‹. Als ›Rupertine del Fino‹ im April 1899 erscheint, ist Friedrich Nietzsche schon seit einem Jahrzehnt in geistiger Finsternis versunken.
     Dagegen ist Thomas Mann noch keine 24 Jahre alt, als Mainländers ›Rupertine‹ in der ›Allgemeinen Zeitung‹ in München abgedruckt wird. Mann ist Redakteur der literarischen Zeitschrift ›Simplicissimus‹ in München und Leser der ›Allgemeinen Zeitung‹, eine Augsburger Zeitung mit eigener München-Ausgabe. Seine Lektüre von ›Rupertine‹ ist zwar nicht verbürgt, doch sind die Parallelen zwischen Mainländers Novelle und Manns Frühwerk verblüffend. Zu diesem Zeitpunkt schreibt Mann die ›Buddenbrooks‹ (1901), für die er einige Monate später, durch die Bekanntschaft mit Schopenhauers Werk im Herbst 1899, die Idee für das Ende erhält: Thomas Buddenbrook ist nach der Lektüre von ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹, einer "Todesphilosophie", die zuviel für sein "Bürgerhirn" sei, "wie im Rausche emporgehoben von einem Glück, dem keins in der Welt an schmerzlicher Süßigkeit zu vergleichen ist" - er ist todesbereit, und der ›Verfall einer Familie‹, wie der Untertitel des Romans lautet, kann beschleunigt vonstatten gehen. In den ›Buddenbrooks‹ schlägt sich Thomas Manns Schopenhauer-Lektüre erstmals nieder und zwar in einer an Mainländer gemahnenden Radikalität, in der Tod und Zerfall am Ende stehen. Das "Dreigestirn" Schopenhauer, Nietzsche und Wagner wird Mann zur ästhetisch-philosophischen Grundlage seiner weiteren Texte machen, denen allerdings ein solch' tödlicher Stachel wie in den ›Buddenbrooks‹ fehlen wird. In ›Der Tod in Venedig‹ (1912), mit dem das Frühwerk schließt, ist diese Schopenhauersche Kompromisslosigkeit einer artifiziellen Melange des Dreigestirns gewichen. Tragend ist in Manns frühen Erzählungen die Polarität von Geist und Leben, Künstler und Bürger, Norden und Süden - Variationen der von Nietzsche getroffenen Aufteilung in ›apollinisch‹ und ›dionysisch‹. Dieses Mannsche Grundmotiv findet sich bereits in Mainländers ›Rupertine‹, wie an dem Künstler und Lebemann Otto und dem Bürger und Philosophen Wolfgang deutlich wird. Und Mann wählt als Untergangsort für den Musiker Gustav von Aschenbach ausgerechnet Venedig, wo schon Mainländer 37 Jahre zuvor den Maler Otto von Dühsfeld alle Wonnen der Lust auskosten lässt, um ihn dort sterben zu lassen. ›Rupertine del Fino‹ enthält bereits die Ingredienzien von Manns berühmtester Erzählung, die exemplarisch für die Dekadenzliteratur um die Jahrhundertwende ist.
     Mainländer stößt mit seinem philosophischen und literarischen Werk mit Wucht das Tor zur Moderne auf, hinter dem in einer ewigen Walpurgisnacht der bürgerliche Totentanz stattfindet. Innerhalb seines literarisches Œuvres setzt Mainländer in ›Rupertine del Fino‹ seine Philosophie am konsequentesten um. Auch wenn die Novelle klar konzipiert ist und geradlinig auf das Ende zuführt, mangelt es dem Text, der in zehn Tagen entstand und nicht mehr überarbeitet wurde, im sprachlichen Ausdruck an der nötigen Strenge und Exaktheit. Das Frauenbild - Rupertine als reines Projektionsfeld - und der Antisemitismus - die verächtlichen Beschreibungen der jüdischen Geschäftsleute in Venedig - sind zwar Phänomene der Zeit, stören aber die Lektüre. Mainländer wird daher nicht nur in der Philosophiegeschichte, sondern auch in der Literaturgeschichte ein versponnener Außenseiter, ein Dilettant bleiben. Aber während andere Autoren, wie Thomas Mann, mit und durch die Kunst Auswege suchen, Schneisen schlagen und Lichtungen finden, benutzt Philipp Mainländer die Kunst als Sprungbrett in den Abgrund, denn ein wahrer Untergangsapostel kennt nur ein happy end: das absolute Nichts.

Joachim Hoell

in: Was Philipp Mainländer ausmacht

Offenbacher Mainländer-Symposium 2001

Hrsg. von Wilfried H. Müller-Seyfarth

Königshausen & Neumann, Würzburg 2002