Joachim Hoell

Philipp Mainländer (1841-1876)

Schriften in vier Bänden
Hrsg. von Winfried Müller-Seyfarth und Joachim Hoell

Joachim Hoell: Nachwort, Band 4: Die Macht der Motive
Olms: Hildesheim 1996-1999
ISBN 3-487-09558-0

 

Pressestimmen

 

Metaphysik der Entropie

Das Werk Philipp Mainländers im Reprint

Die von Thomas Mann so brillant glossierten und so inständig beneideten "Blonden und Blauäugigen" sind auch in der Philosophie schnell mit den Vorurteilen des "gesunden" Menschenverstandes bei der Hand. In der Psychopathologie der Weltanschauungen hat zum Beispiel der Pessimismus, ganz zu schweigen vom Nihilismus, als Ausdruck eines offenbar nur krankhaft zu verstehenden "Negativismus" eine beliebte Rolle gespielt. Schopenhauer oder in unseren Tagen Emile Cioran scheinen bestens geeignete Exempel. Im nachschopenhauerischen Pessimismus lieferten für das von Nietzsches forciert "fröhlicher Wissenschaft" ausgesprochene Verdikt - wahrhaftig das eines Gesunden! - Eduard von Hartmann, der "alte Brummkreisel" Julius Bahnsen und der "süssliche Virginitätsapostel" Philipp Mainländer (Pseudonym für Philipp Batz, 1841-1876) den willkommenen Stoff.
     Vor allem Mainländers Leben und Denken galten immer als ideales Sujet philosophischer Pathographie, und zwar gerade weil er so rabiat konsequent gewesen war: Kaum hatte er seine zweibändige "Philosophie der Erlösung" in die Welt gesetzt, erhängte er sich. Vor Camus' immer noch atemverschlagendem erstern Satz im "Mythos von Sisyphos", dass es "nur ein wirklich ernsthaftes philosophisches Problem: den Selbstmord" gebe, hat Mainländer mit seiner als Erlösung verstandenen Lösung Ernst gemacht.
Unerachtet aller Pathographie hat Mainländer indessen stets seine Leser gefunden, deren Interesse offenbar demselben krankhaften Denken entsprang. Jorge Luis Borges und Cioran gehörten dazu, neuerdings Ulrich Horstmann mit seinem "anthropofugalen" Denken, das die Mainländersche Philosophie als "Metaphysik der Entropie" auf einen griffigen aktuellen Begriff gebracht hat. Und Theodor Lessing hat bei aller Kritik an Mainländer von dem "radikalsten System des Pessimismus" gesprochen, das die "philosophische Literatur kennt".
     Mit Recht. Wenn in der antiken Philosophie noch der "Peisithanatos", der "Todesprediger" Hegesias, die anderen die suizidale Arbeit machen lässt; wenn in der neuzeitlichen Philosophie Schopenhauers Philosophie vor einem buchstäblich verstandenen Nichts zurückschreckt, so hat Mainländer mit eindrucksvoller Konsequenz den in den Nihilismus mündenden Pessimismus zu Ende gelebt und zu Ende gedacht.
     Die Weltschöpfung ist für Mainländers "Philosophie der Erlösung" Gottes Selbstmordprojekt: Das in der Welt zersplitterte vorweltliche "Übersein" wollte restlos ins Nichts. Denn "Nichtsein ist besser als Sein", Punktum. Und selbst Gott konnte dieses invertierte Paradies, diesen negativen Himmel nur über den Umweg einer ganzen Weltschöpfung erreichen, auch wenn Mainländers Gott die Beschränktheit der alten Götter, dass sie nicht sterben können, nicht mehr teilt. Mainländers "Nichts" ist nicht jenes "nihil privativum" oder "relativum", an dem sich die Tradition seit der antiken "steresis"-, der patristisch-scholastischen "privatio"-Lehre orientiert hatte, sondern ein vollendetes "nihil negativum". Es soll endlich Ende und Ruhe sein, denn "bei den Toten gibt es keinen Schmerz". Und die Ungeborenen, so schon die "antinatalistische" düstere Weisheit des griechischen Waldgottes und Dionysos-Lehrers, des Silen, haben den Schmerz nie gekannt.
     Vor Freud entdeckt Mainländer den Todestrieb, das "Nirwanaprinzip", das die finale Spannungsreduktion dessen will, was sich "Leben" nennt. Von der "Erhaltung der Energie" will Mainländer weder kosmologisch noch existentiell etwas wissen, nur von umfassender Entropie, von einer jubelnd begrüssten "Schwächung der Kraft" - zweifellos für die Blonden und Blauäugigen mit ihrem Lebenspotenzkult, für den zeitgenössischen spirituellen Götzendienst der "Energie" eine Zumutung sondergleichen. Aber mag für die obsessive okzidentale Fixierung auf das Sein auch die Umdeutung von Welt und Schöpfung als Umweg ins Nichts eine harte Fügung sein, so erhält diese Konstruktion doch aus dem Gang der globalisierten abendländischen Geschichte immer mehr Nahrung. Die vitalen Exzesse sind von den nekrophilen immer weniger zu unterscheiden.
     Nur wollen die Menschen nach Mainländer immer noch nicht begreifen, dass sich die ganze verhetzte Jagd nach der Chimäre des Glücks nicht lohnt. Ausgerechnet die Notleidenden, die Entrechteten treibt weiterhin die Idee des grösstmöglichen Glücks der grösstmöglichen Zahl um. Deswegen muss man sie positiv, durch Erfüllung, enttäuschen. Denn im Gegensatz zur Lehre der Fabel halten die menschlichen Füchse jene Trauben für süss, die sie noch nicht gekostet haben. Deswegen wird Mainländer zum Protagonisten einer schopenhauerschen Linken, gleichsam zum Lassalle der Metaphysik, der Sozialismus und Nihilismus zusammenzuführen sucht. Eine Lehre auch der sozialen Entropie.
     Nun, das scheint gegenwärtig ferner denn je. Gleichwohl ist Mainländers schwarze Metaphysik zur Jahrtausendwende von einiger Aktualität: Sie verneint, "dass es so weitergeht". Das wäre nach Walter Benjamin "die Katastrophe". Und für Wesen, die sein und "schaffen" können oder auch nicht, ist Mainländer bei aller Pathologie allemal eine heilsame Provokation. Seit 1996 ist ein von dem Mainländer-Kenner Winfried H. Müller- Seyfarth besorgter schöner Reprint der zweibändigen "Philosophie der Erlösung" wieder im Handel. In der Mainländer-Nachfolge versteht der Herausgeber sein Berufsbild als das eines "Thanatologen". 1997 ist das "dramatische Gedicht" "Die letzten Hohenstaufen" hinzugekommen - fraglich, ob es den Reprint verdient hat. Jetzt ist mit einem vierten Band auch der weitere literarische und autobiographische Nachlass mit einem verdienstvollen Kommentar erschlossen worden: Gelegenheit für eine unbefangenere Lektüre, vielleicht für eine Wiederentdeckung.

Ludger Lütkehaus

19.08.1999

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