Gehirnakrobat und Muttermörder

Gabriel Loidolts »Hurensohn«

 

»Ich habe meine Mutter umgebracht, meine allerliebste Mutter!« So beginnt der zwanzigjährige Ozren seine ungewöhnliche Beichte an einem ausgefallenen Erzählort: Der Muttermörder hat sich mit einem Plastiksack voll Wurstsemmeln und zwei Flaschen Cola auf das Etagenklo zurückgezogen und erzählt sich dort in einer Nacht sein abnormes Leben. Am Ende der bizarren Kindheitsgeschichte wird ihn ein »todesgefährlicher Hunger« von seiner einsamen Örtlichkeit treiben.
     Sein Vater hat die Familie früh verlassen, und die Mutter geht angeblich Putzen, aber Ozren wird als Hurensohn gehänselt, bevor er weiß, was das überhaupt ist. Er leidet früh unter Sprachstörungen, kommt auf die Sonderschule, und nebenbei schrubbt er gewissenhaft die Zimmer des Bordells, in dem er wohnt. Seinen Kummer stillt er mit Unmengen von Wurstsemmeln, »mit dem Fernseher sieht er in die ferne Welt«, und er spielt gerne an seinem »Erzeugerhahn, um als slawonischer Weltmeister in der päpstlichen Disziplin halbe Kinder« zu produzieren. Er selbst sieht sich als »außernormales Kind«, und das ist er auch: er hat seine eigene Sprache und seinen eigenen Kopf, der »so groß ist, daß die ganze Welt darin Platz hat, aber er selbst keinen Platz im Kopf der Welt hat«.
     Der vierundvierzigjährige Gabriel Loidolt aus Graz legt mit seinem dritten Buch »Hurensohn« einen neuen österreichischen Antiheimatroman vor, so verstörend wie Franz Innerhofers Kindheitshöllen, so ausweglos wie Gernot Wolfgrubers Niemandsland, so bitterböse wie Elfriede Jelineks Provinzalpträume und so radikal wie Thomas Bernhards Sprachpartituren. Loidolt ergänzt die austriakische Horrorszenerie um einen weiteren Einzelgänger, dem als »Ausländer« und Hurensohn nichts anderes übrigbleibt, als das verlogenheitstriefende Österreich der neunziger Jahre zu sezieren. So wie die Atemlosigkeit der Bernhardschen Erzähler zu ihren ausufernden Monologen führt, entsteht aus Ozrens Stottern ein flammender und wortgewaltiger Monolog gegen seine feindliche Umgebung. Diese Gesellschafts- und Kulturkritik wird durch die erfindungsreiche Kunstsprache verstärkt, die sich sprachlichen Konventionen entzieht. Loidolts Referenz an Hofmannsthals bekanntes Zeugnis seiner Sprachkrise im Brief des Lord Chandos, dem »die Worte wie modrige Pilze im Mund zerfielen«, ist überdeutlich, wenn dem Stotterer Ozren »die Wörter wie Granaten auf seiner Zunge krepieren oder sich als gefährliche Blindgänger tarnen«.
     Als in Graz lebender Slawone »ohne semmelblondes Haar und Rosaschweinsgesicht« gilt Ozren als Balkanier, Jugo und Tschusch, wie Südslawen abfällig in Österreich genannt werden. Obwohl die Heimat seiner Familie nur wenige Kilometer entfernt liegt und zudem einmal Bestandteil des Habsburgerreiches war, trennen es heute Welten von der schönen neuen Welt. Die »echten eingeborenen Österreicher« bilden darum nur die grausige Kulisse für Ozrens Geschichte. Sein einziger Freund, dessen »Tempel vor langer Zeit von der Herrenmännerrasse angezündet worden war«, zog wegen täglicher Demütigungen mit seiner Familie ins »Heilige Jesusland«, um sich dort von einer Granate zerfetzen zu lassen. Das übrige Personal des Romans setzt sich aus lateinamerikanischen und asiatischen Prostituierten wie aus Slawonen, Slowenen, Kroaten, Bosniaken und Serben zusammen: Außenseiter, die als Exilierte, Flüchtlinge und Kriegsverlierer von allen verachtet werden und sich gegenseitig noch weniger achten.
     Der nahe Krieg im ehemaligen Jugoslawien durchdringt Ozrens Lebensbericht auf jeder Seite. Der Konflikt zwischen Christen und Moslems wird in seinen Augen zu einer Frage der Hygienekultur der »Kameltreiber« gegenüber den »Schweinezüchtern«. Diese und andere Kurz-Schlüsse des jungen Ozren, den alle für einen Idioten halten, erscheinen als adäquate Methode, die Lächerlichkeit und den Wahnsinn dieses Krieges unverblümt anzuprangern. Jugoslawien sei »das Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, weil es dort im Gegensatz zu Österreich nicht verboten sei, mißliebige Menschen »abzugurgeln«. Gelegentlich bleibt einem trotz der Komik seiner Ansichten das Lachen im Halse stecken, beispielsweise wenn Ozren in seiner entwaffnenden Naivität die Menschenkonzentrationslager mit »Hühnerkonzentrationslagern« gleichsetzt. Sein Onkel Ante, der »als Kartoffelschälermann die Sieben Weltmeere durchschifft hat« und immer nach »Slibo« riecht, ist nicht nur Ozrens Vaterersatz, sondern auch sein Stichwortgeber. Dessen schlichte Wahrheiten pointiert der »kleine Gehirnakrobat« mit messerscharfen Analysen, die einen äußerst kritischen Blick auf das von Bigotterie geplagte Österreich und Europa werfen.
     Loidolt hat eine Figur geschaffen, die zwei unvergeßliche, aufsässige Erzählerstimmen ins Gedächtnis ruft: Oskar Matzerath aus Grass' »Blechtrommel« und Itzig Finkelstein aus Hilsenraths »Der Nazi & der Friseur«. Die eindringlich-infantile Sprache, makabre Kindheitsepisoden, sexuelle Eskapaden der Eltern und kraftvolle Milieuschilderungen erinnern an diese Romane, in denen auf unerbittliche Weise nicht nur die Verlogenheit der Erwachsenenwelt aufgedeckt, sondern auch die offizielle Geschichtsschreibung grundsätzlich in Frage gestellt wird. Loidolt entwirft in seinem schmalen Roman zwar nicht ein so schillerndes Kaleidoskop an Figuren, Orten und geschichtlichen Ereignissen wie Grass oder Hilsenrath, da er sich räumlich auf den Grenzbereich Österreichs zu Kroatien und auf die Zeitspanne der letzten Jahre beschränkt, dafür gibt er eine unprätentiöse Vorstellung des blutigen Krieges auf dem Balkan mit seinen menschlichen und sozialen Auswirkungen. »Die ganze Welt ist nur ein einziges, großes, furchtbares und schreckliches Kummerbalkanien«, schließt Ozren seinen Bericht auf der Kloschüssel.
     Ozrens Stimme wird ebenso im Gedächtnis bleiben wie sein unerschütterlicher Optimismus. Am Todestag seiner Mutter sieht er sich lustige Filme im Fernsehen an, weil man »sonst noch trauriger wird«; seine Mutter hat er sowieso nur in seinen »Gehirnphantasien« umgebracht. Seine tiefschürfende Anklage sollte man hingegen ernst nehmen.

Gabriel Loidolt

Hurensohn

Alexander Fest Verlag

Berlin 1998

 

in: Literatur und Kritik, 323/324, Salzburg 1998