Joachim Hoell

 

Jede Biografie eine neue Herausforderung

Interview mit Joachim Hoell

 

Joachim Hoell, geboren 1966, lebt in Berlin. Der promovierte Germanist hat hoch gelobte Biografien über Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard verfasst. Außerdem schreibt er Drehbücher für Dokumentar- und Spielfilme und führt auch selbst Regie. Seine jüngste Veröffentlichung ist eine Biografie über den streitbaren linken SPD-Politiker und ehemaligen Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine. Derzeit schreibt Hoell an seinem ersten Roman.

 

Dein neues Buch über Oskar Lafontaine heißt „Provokation und Politik“. War die Veröffentlichung als Provokation an die SPD gedacht? Ein lange geplanter Vorstellungstermin für das Buch wurde kurzfristig abgesagt.
Zu einem Buch gehören ein Verleger und ein Autor. Das Projekt ist mir vom Verlag angetragen worden, ohne provokative Absichten. Außerdem wurde das Buch über ein Jahr vor Erscheinen in Auftrag gegeben. Entgegen dem heutigen Trend sollte keine flache Figur, sondern eine interessante, sperrige Persönlichkeit portraitiert werden, eine, die Charisma hat. Natürlich schaut ein Verleger auch darauf, ob ein Titel in den Markt passt und sich verkaufen lässt. Dabei hat der Verleger sicher mit Lafontaine politisch weit weniger am Hut als ich.
Der Text selbst war nicht als Provokation konzipiert. Als ich mit dem Manuskript beinahe fertig und Lafontaine im Jahr 2004 kontinuierlich präsent war und von den Medien hofiert wurde, hatten wir eine Entwicklung, die ich natürlich gerne beobachtet habe. Je schlechter es der SPD ging, desto besser stand Lafontaine da, und als Lafontaine zu einem Federführer des Protests gegen Hartz IV wurde, passte mir das gut in den Kram.


Wie hast Du auf das Angebot reagiert?
Ich habe eigentlich sofort gedacht, Lafontaine, das würde mir Spaß machen, das ist eine Figur, die trägt. Davor hatte ich Biografien über Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard geschrieben, auch sperrige Figuren, die ganz unterschiedliche Meinungen hervorrufen. Mit Lafontaine ist es das Gleiche. Ich habe mich schon immer für Querköpfe interessiert.


Das Buch wurde dann von PDS-Polit-Star Gregor Gysi vorgestellt. Wie kam es dazu?

Politikerbiografien werden entsprechend präsentiert, meist in Berlin, dem Zentrum des politischen Lebens in der Republik. Da tauchte die Frage auf, welcher prominente Politiker könnte das übernehmen. Lafontaine schlug mir im Scherz Gerhard Schröder vor, im Ernst dann Gregor Gysi, auf den es dann schnell hinaus lief. Ich halte ihn für einen sympathischen Polit-Entertainer, zudem hatte Lafontaine zwei Jahre zuvor ein Buch von Gysi vorgestellt. Ich habe Gysi angeschrieben, und er hat schon eine Woche später zugesagt. Das war Ende August 2004 ein guter Coup, eine nicht ganz unbeabsichtigte Provokation, denn wir hatten die Buchpräsentation im Bundespresseamt untergebracht. Tja, und dann wurden wir tatsächlich eine Woche vor dem Termin mit fadenscheinigen Gründen – auf Weisung “von oben“ – wieder ausgeladen.


Was bist du dazu gekommen, über Menschen zu schreiben?

Während ich auf eine Stelle an der Universität wartete, startete der Deutsche Taschenbuch Verlag eine neue Reihe mit Biografien, als Gegenstück zu den erfolgreichen Rowohlt Monografien konzipiert. Ich hatte über Bachmann und Bernhard meine Dissertation geschrieben und brachte mich bei DTV als Bernhard-Experte ins Gespräch, konnte auch auf einige Fachpublikationen verweisen und habe prompt den Zuschlag bekommen. Daraus hat sich dann das zweite Buch über Ingeborg Bachmann ergeben, mit dem ich anfing, bevor das Bernhard-Buch erschienen war.


Ist es dir von Anfang an leicht gefallen, Biografien zu schreiben?
Zunächst wusste ich nicht, ob mir das liegt. Als Wissenschaftsautor, der zwar auch ein paar Zeitungssachen gemacht hat, muss man erst einmal den Ton treffen. Deshalb habe ich anfangs Textpassagen an Bekannte weitergegeben, die nicht unbedingt Literaturwissenschaftler sind, und bin so auf Stolperfallen oder umständliche Formulierungen aufmerksam gemacht worden.


Gab es auch Momente des Zweifelns?
Man fragt sich während der Arbeit immer wieder, ob man es überhaupt packt. Es ist ja nicht so, dass man schreibt und sich immer sicher ist, dass man es gut hinbekommt. Es gibt immer zwei, drei Momente während einer Niederschrift, in denen man denkt, ich schaffe es nicht. So stellt jede Arbeit auch eine neue Herausforderung dar.


Wie kommt man an die vielen Daten und Geschichten rund um eine Person?
Das ist richtige Kernerarbeit. Gerade bei Lafontaine gibt es kaum Bücher, auf die ich mich stützen konnte. So musste ich mir alles Stück für Stück zusammentragen, war im Pressearchiv des Bundestags, wo allein über Lafontaine 43 prall gefüllte Ordner lagern, oder im Archiv des Spiegel. Diese Papierberge galt es dann zu wälzen und nach interessantem und brauchbarem Material zu filtern.


Wie muss man sich die Arbeit vorstellen?
Im Fall von Lafontaine habe ich schnell Kontakt mit ihm aufgenommen, und er hat mir auch wirklich viel geholfen. Im Fall von Bernhard hatte ich Kontakt zu Leuten aus seinem direkten Umfeld und dadurch Zugang zu vielen Informationen.


War es anders über einen Politiker zu schreiben als über Literaten?
Der Hauptunterschied ist, dass man bei einem Literaten die klare Abgrenzung zwischen Leben und Werk hat. – diese beiden Elemente bilden das Gerüst Bei Politikern muss Leben und Wirken beschrieben werden, beides stellt sich oftmals nur als eine Abfolge von Karriereschritten dar. Und was man bei Schriftstellern aus der Literatur und Sekundärliteratur holt, muss man bei Politikern mühsam aus einer Vielzahl von Quellen, Personen, Zeitungen, Archiven zusammentragen.


Hast du für die Lafontaine Biografie dann länger gebraucht?
Nein, eigentlich habe ich immer gleich lange an einem Projekt gearbeitet, sieben bis acht Monate. Das bedeutet natürlich, dass es vor allem in der Endphase keine acht Stunden Tage mehr sind und auch freie Wochenenden entfallen.


Was nimmt am meisten Zeit in Anspruch, die Recherche oder das Schreiben?
Ich glaube, ich kann einigermaßen gut strukturieren und habe inzwischen auch einige Erfahrung beim Schreiben. Beim Lafontaine-Buch, aber auch bei meinen beiden anderen Biografien, hatte ich immer nach zwei bis drei Wochen die Struktur, also die einzelnen Kapitel des Buches, im Kopf. Daran habe ich kaum noch etwas geändert. Wenn man diese grobe Struktur einmal hat, dann arbeitet man die einzelnen Kapitel ab, meist auf verschiedenen Ebenen: Man recherchiert einerseits und schreibt andererseits am Text, damit man sieht, wie alles zusammenwächst. So kann es sein, dass man über manche Textpassagen hundertmal drüber geht, ehe man das Gefühl hat, jetzt passt es.


Bist Du selbst ein politischer Mensch?
Schon. Ich war nie politisch in irgendeiner Partei engagiert und habe es auch nicht vor, aber ich bin in jedem Fall ein politisch denkender Mensch. Auch meine beiden anderen Figuren, Bachmann und Bernhard, sind meines Erachtens politische Autoren.


Beschreib doch mal den Ablauf deines Arbeitstages?
Ich bin schon einige Jahre als Freiberufler tätig und habe auch vorher durch meine Promotion hauptsächlich zuhause gearbeitet. Dadurch habe ich mir eine gewisse Disziplin angewöhnt. Das heißt, ich sitze gegen 9 Uhr an meinen Schreibtisch, lese E-Mails und bringe mich auf den Stand der neuesten Nachrichten im Netz, bevor ich ernsthaft zu arbeiten beginne. Wenn der Druck größer wird, je näher der Abgabetermin rückt, kann es auch sein, dass ich sofort in den Text reingehe und gezielt an einer Passage weiterarbeite, verbessere oder umschreibe. Gegen Mittag, zwischen 12 und 13 Uhr gibt es dann eine kurze Pause, um etwas zu essen und Zeitung zu lesen. Anschließend setzte ich mich wieder ran und arbeite bis 19 Uhr durch.


Aber insgesamt ein sehr konzentriertes Arbeiten?
Ja, sehr konzentriert und auch immer wieder an den Wochenenden. Es kommt selten vor, dass ich das Projekt am Freitag schließe und erst am Montag daran weiter arbeite. Und sei es nur, dass ich mir meinen Text ein oder zwei Stunden lang anschaue, einfach um die Sache am Brennen zu halten.


Arbeitest Du eher zurückgezogen oder bist Du auch während Du arbeitest zugänglich?
Meine Freunde wissen, wann ich gerade an etwas dran bin und rufen mich dann tagsüber auch nicht pausenlos an. Vielleicht eine kurze Information, eine Terminvereinbarung und dann war`s das. Ansonsten lebe ich mit meiner Freundin zusammen, die gegen halb neun aus dem Haus geht und nicht vor 19 Uhr zurück kommt, also genau während meiner Arbeitszeit außer Haus ist. Ablenkung stellt nur ein Problem dar, solange ich noch um das Projekt herumkreise, wenn ich noch nicht richtig dran bin. Danach stellt das kein größeres Problem dar.


Ich habe gelesen, dass Du Dich einer gewissen Sympathie der portraitierten Personen gegenüber, insbesondere bei Oskar Lafontaine, nicht erwehren kannst. Ist Sympathie eine Vorraussetzung, um eine Biografie zu schreiben?
Eine gute Frage – ich weiß es nicht genau, darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Ich brachte und bringe allen drei von mir Portraitierten Sympathie entgegen. Ich weiß nicht, ob es grundsätzlich Sympathie sein muss, aber zumindest eine gewisse Faszination sollte vorhanden sein. Schreibt man ein Buch über Hitler, dürfte es weniger Sympathie als vielmehr Interesse und Faszination sein – was hat so einen Menschen angetrieben, und welche Faszination hat das Grauen, das Böse. Für mich persönlich war immer entscheidend, dass die Figuren tragen. Es gibt Menschen, die kann man sympathisch finden, merkt aber, sie haben nicht die nötige Substanz. Lafontaine hat diese Substanz, er ist eine interessante Figur. Er war stets jemand, der sich nie nach den Moden gerichtet, sondern immer sein Ding durchgezogen hat. Vor allem hat er dieses Politikergewäsch, diese standardisierten Formeln, die man heute immer und überall zu hören bekommt, zu meiden versucht.


Wie nahe kommt man als Biograf einem Menschen über den man schreibt bzw. ist es überhaupt möglich eine Distanz zu wahren?
Wenn man es streng räumlich nimmt, ist es möglich, Distanz zu wahren. Ich habe Lafontaine nur einmal getroffen. Er war am Anfang sehr vorsichtig, was verständlich ist. Man muss sich einmal umgekehrt vorstellen, es kommt jemand, den man überhaupt nicht kennt und will eine Biografie über einen schreiben. Der fängt dann plötzlich an, überall zu suchen, klingelt bei den Nachbarn und fragt, wie ist denn der eigentlich so. Und bei einem Politiker gibt es genügend Leute, die noch offene Rechnungen haben und gerne irgend etwas erzählen möchten.


War es später einfacher mit ihm zusammen zu arbeiten?
Wir haben hauptsächlich telefoniert, oftmals ein oder zwei Stunden lang. Wir hatten zum Teil sehr heitere Gespräche. So haben wir uns angenähert, und er hat wohl gemerkt, dass ich nichts „Schlechtes“ mit ihm vorhabe. Aber natürlich bin ich trotzdem auf einer gewissen Distanz geblieben, genauso wie er.


Aber wie kam dann das Titelfoto zustande, auf dem Lafontaine so dargestellt ist, wie ihn viele sehen: Eine Mischung aus Kaiser Nero und Marlon Brando, herrschsüchtig und überheblich?
Mit dem Bild hatte ich nichts zu tun. Das hat der Verleger mit einem Gestalter ausgesucht, und ich habe es erst gesehen, als nichts mehr geändert werden konnte. Zuerst dachte ich auch, das ist aber ein sehr unvorteilhaftes Foto. Nach einiger Zeit hat mir das Cover immer besser gefallen, das Bild ist wiederum typisch für ihn. Und natürlich passt es auch gut zum Titel „Provokation und Politik“.


War es schwer die Facetten einer Persönlichkeit wie Lafontaine einzufangen und zu Papier zu bringen?
Lafontaine kennt man ja bis zu einem gewissen Grad. Ich selbst habe ihn seit 1980, seit den Zeiten der Friedensbewegung, beobachtet. Vieles von dem, was ich in dem Buch bearbeitet habe, war Tagesgeschehen, das ich selbst miterlebt habe. So hatte ich natürlich ein Bild von ihm. Dabei habe ich ihn nie wirklich als linken Helden gesehen, sondern immer als einen sperrigen, zum Teil auch arroganten Menschen gesehen und erlebt. Von daher war es klar, dass ich auch die etwas dunkleren Seiten beleuchten wollte, um ein objektives Bild von Lafontaine zu entwerfen. Deshalb habe ich mich beispielsweise intensiv mit der Rotlicht-Affäre oder seinem überraschenden Rücktritt vom Amt des Bundesfinanzministers beschäftigt, zwei in der Öffentlichkeit sehr negativ behafteten Episoden in seinem Leben.


Ist das nicht auch eine Art Spannungsbogen für den Leser?
Genau. Deshalb ist es wichtig, diese Ambivalenz darzustellen, um das gesamte Portrait plastischer zu gestalten. Es wäre ja langweilig, etwas über eine Person zu lesen, die ohne Ecken und Kanten daherkommt, vom Autor geglättet und abgeschliffen.


Wie wichtig ist einem die Meinung der Kritik?
Ich hatte bei meinen Büchern überwiegend gute Kritiken. Lediglich bei meiner Bachmann Biografie gab es zwei oder drei schlechte. Allerdings verraten solche Kritiken auch immer viel über die Kritiker und nicht nur über die Kritisierten. Ärgern musste ich mich trotzdem, wenn es schlichtweg falsche Behauptungen waren. Man liest Kritiken natürlich schon und freut sich, wenn der Kritiker einzelne Punkte oder die Gesamtdarstellung zu würdigen weiß. Man sitzt sieben oder acht Monate an einem Buch, wenn man darauf kein positives oder noch schlimmer, gar kein Feedback erhalten würde, dann müsste man sich schon fragen, wozu man sich die Arbeit gemacht hat.

 

Das Interview führte Kai Bliesener

in: Federwelt, Zeitschrift für Autorinnen und Autoren, Nr. 52, Juni/Juli 2005