Kulturbrief aus Dresden

 

Sitzen ist ein Alltagsphänomen. Jeder sitzt ständig und überall. Die Menschen der westlichen industrialisierten Welt sitzen täglich auf schätzungsweise zwanzig verschiedenen stuhlartigen Gebilden: am Arbeitsplatz, Schreibtisch, Computer, Küchentisch, Eßtisch, in Auto, Bus oder Bahn, während einer Konferenz, in der Kantine, im Warteraum und im Behandlungszimmer, im Restaurant, Kino, Theater, vor dem Fernsehgerät, auf der Toilette - die Liste ist so endlos wie die für den jeweiligen Zweck bereitstehenden Sitzgelegenheiten. Nahezu zwei Drittel unseres Lebens verbringen wir im Sitzen. Das restliche Drittel ruhen wir schlafend vom Sitzen aus. Wir sitzen versessen bis zur Bewegungslosigkeit. Das gesetzte Ziel scheint die vollkommene Sedierung.
     Allerdings sitzt noch heute weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung auf Stühlen. Die Mehrheit der Menschheit hockt, kauert, liegt, kniet, steht - sitzt jedoch nicht im zweimal rechten Winkel. Sitzen war im Anfang das Thronen gottgleicher Herrscher, im Mittelalter versetzten sich Mönche im dafür erschaffenen Chorgestühl in Askese, im 18. Jahrhundert nahm die bürgerliche Gesellschaft Europas langsam Platz und Michael Thonet setzte seit Mitte des 19. Jahrhunderts den Caféhaus-Stuhl als erstes Massensitzmöbel in Umlauf. Heute setzt man sich in der Öffentlichkeit selbstverständlich nieder. Sitzen dient der Beruhigung, Disziplinierung, Kasteiung. Wer nicht ruhig auf einem Stuhl sitzt, setzt seinem Gegenüber schwer zu. Ein gesetzter Mensch gilt hingegen als reifer Mensch. Keiner kann sich mehr aus seiner sitzenden Haltung lösen. Wir sitzen fest.
     Die Ausstellung
»sitzen.« im Dresdener Hygiene-Museum ist der Kulturgeschichte des Sitzens gewidmet, versucht Antworten auf soziologische, philosophische, politische und medizinische Fragen zu geben und behandelt auch psychologische und literarische Aspekte des Sitzens.
     Schriftsteller haben sich naturgemäß sitzend mit dem Sitzen auseinandergesetzt. Daß Goethe und Hauptmann am Stehpult Buchstabe um Buchstabe setzten, besitzt dabei wenig Repräsentanz. Schriftsteller sind Schriftsetzer, die ihre Schriften im Sitzen setzen. Robert Walser setzt dies für den Schreibenden voraus:
»Wer nie ruhig sitzen kann, sondern immer laut und wichtig zu einer Arbeit tun muß, um diese zu verrichten, wird nie schön und lebhaft schreiben können.« Lebhaft schreiben ersetzt lebhaft leben. Beckett setzt dem sein Endspiel entgegen: »Eines Tages ... Du wirst irgendwo sitzen, ganz winzig, verloren im Leeren, für immer im Finstern. Wie ich. Eines Tages wirst du dir sagen: Ich bin müde, ich setze mich, und du wirst dich setzen. Dann wirst du dir sagen: Ich habe Hunger, ich steh jetzt auf und mach mir was zu essen. Aber du wirst nicht aufstehen, Du wirst dir sagen: Ich hätte mich nicht setzen sollen, aber da ich mich gesetzt habe, bleib ich noch ein wenig sitzen, dann steh ich auf und mach mir was zu essen. Aber du wirst nicht aufstehen und du wirst dir nichts zu essen machen.« Körperliche Bewegungslosigkeit versetzt einen letztenendes in geistige Bewegungslosigkeit. Thomas Bernhard scheitert, diesen tödlichen Automatismus zu zersetzen. »Wir können nicht sagen, wir denken, wie wir gehen, wie wir nicht sagen können, wir gehen, wie wir denken, weil wir nicht gehen können, wie wir denken, nicht denken, wie wir gehen.« Gehen ist äußere Bewegung, Denken ist innere Bewegung. Denken setzt körperliche Unbeweglichkeit voraus. Die Disziplin des Stuhles birgt das Gesetz der Disziplin des Geistes. In diesem Paradox sitzen wir fest.
     Also sitzen wir bewegungslos wie Nell und Nagg in Mülltonnen. Becketts Vorhölle ist unsere sedierte Gesellschaft. Die Reise durch virtuelle Welten setzt den Schlußpunkt dieser fortwährenden Sedierung: auf dem Stuhl im Internet. Das Endspiel hat längst begonnen ...

sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft. Bis zum 4. Januar 1998 im Hygiene-Museum Dresden

 

Katalog

sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft

hrsg. von Hajo Eickhoff

Anabas, Frankfurt/M. 1997

 

in: Literatur und Kritik, 315/316, Salzburg Juni 1997